Anonyme Fleischhaufen

Fast zehn Jahre ist es nun her, als ich von meinem idyllischen Heimatdorf am Walensee mit knapp 1000 Einwohnern nach Zürich gezogen bin. Zuerst war ich mir alles andere als sicher, ob die Zwinglistadt meine neue Heimat wird. Denn der Umzug nach Zürich war ursprünglich eher ein rationaler Entscheid. Zwar habe ich mich immer wohl gefühlt in Städten, aber in erster Linie bin ich wegen des Studiums und den Jobmöglichkeiten in die Stadt gezogen. So kam es dann auch, dass ich mit dem städtischen Milieu nicht sofort warm wurde. Ich war mir nicht bewusst, dass ein Umzug in die Stadt auch mit einem anderen Lebensstil verbunden ist.

Zunächst fanden es meine Freund:innen vom Walensee richtig toll, dass jetzt jemand eine Wohnung im Ausgangsmekka der Schweiz hatte. Fast jedes Wochenende hatte ich die Bude voll – eine intensive Zeit. Doch am Sonntagmittag sind alle wieder nach Hause gefahren und ich fand mich alleine auf dem Sofa sitzend in meiner kleinen Plattenbauwohnung vor. In dieser Zeit habe ich mich oft einsam gefühlt und zum ersten Mal in meinem Leben realisiert, was Anonymität wirklich bedeutet. Zwar hatte ich Freund:innen aus dem Studium, die ebenfalls in Zürich lebten und auch schon dort aufgewachsen sind. Aber die hatten natürlich auch schon ihren eigenen Bekanntenkreis. Klar, ab und zu nahm man einen Apéro nach den Vorlesungen oder ging mal aus. Aber so eng befreundet, dass man sich auch mal spontan ausserhalb der Schule traf, war man am Anfang des Studiums noch nicht.

In meiner Heimat war das anders. Man hatte seine Clique und da das kulturelle Angebot beschränkt war, traf man sich sowieso immer in derselben Bar oder im Winter beim Snowboarden in den Flumserbergen. Meistens schrieb man sich: «Hey kommst du auch in die Tenna-Bar?» oder «Heute auch auf dem Berg?» Aber man hätte es gerade so gut sein lassen können. Wenn man Gesellschaft wollte, wusste man, wo man sie fand. Man kannte sich ja schliesslich.

Wie sollte ich nun die Sonntage und Abende ganz alleine in der grossen Stadt verbringen? Der Zürichsee und die Limmat gehören im Sommer zu den beliebtesten Treffpunkten. Also dachte ich mir, ich gehe jetzt auch mal an den Letten, von dem alle immer sprechen. Bewaffnet mit Badeanzug, Tuch und Buch machte ich mich auf den Weg. Als ich ankam, traf mich fast der Schlag. Die Leute lagen Tüchlein an Tüchlein nebeneinander. Das war ich mir definitiv nicht gewohnt. Schliesslich waren wir an meinem angestammten Strand am Walensee immer die gleichen Nasen und hatten Platz en masse. Ich, in diesen Fleischhaufen reinliegen? Niemals!

Solche Begebenheiten könnte ich viele erzählen. Sie sind wohl typisch dafür, wenn ein Landmensch auf die Stadt trifft. Es ist die Kombination aus Nähe und beschränktem Raum bei gleichzeitiger Anonymität, die irritiert. Und doch habe ich mich mit der Zeit so mit der Limmatstadt angefreundet, dass ich mir jetzt gar nicht mehr vorstellen könnte, sie zu verlassen. Ich schätze das kulturelle Angebot enorm und habe mittlerweile einen grossen Bekanntenkreis in der Stadt. Der Terminkalender ist stets vollgefüllt (zumindest war das vor Corona der Fall). Vom Quartierfestival, über das Theaterspektakel bis zur Streetparade gibt es Anlässe in allen erdenklichen Facetten. Manchmal ist es schon fast ein bisschen zu viel des Guten und ich flüchte gerne wiedermal in die alte Heimat. Vom Walensee sind mir noch eine Hand voll enge Freund:innen geblieben. Wir besuchen uns gegenseitig und geniessen es, den Stadt-/Landkontrast immer wieder gemeinsam erleben zu dürfen.

Meine Wurzeln sind mir wichtig und ich bin immer wieder überrascht, in welcher Weise sie auch nach fast zehn Jahren Zürich immer mal wieder durchdringen. Als ich vor ein paar Jahren in eine neue Wohnung zog, habe ich die neuen Nachbarinnen auf einen Kaffee zu mir eingeladen. Sie waren ganz erstaunt, liessen sich aber darauf ein. Sie meinten: «Du bist ursprünglich sicher nicht aus der Stadt.» Heute haben wir ein nachbarschaftliches Verhältnis, wie es sonst eher auf dem Lande üblich ist. An lauen Sommerabenden grillieren wir manchmal zusammen auf einem unserer Balkone, machen gemeinsam Sport oder kaufen auch mal füreinander ein. Und manchmal möchte man einfach für sich sein und das ist dann auch ok. Die Anonymität hat auch gute Seiten.