«Eine weisse Linie von Zürich bis Damaskus»

Im Interview mit dem luxemburgisch-schweizerischen Konzeptkünstler und Kurator Mark Divo spricht Libertin über Kunst und Urbanität im weitesten Sinne, wie auch über seinen persönlichen Stand als Künstler in der aktuellen, pandemiebedingten Zeit. Divo, der in Zürich aufgewachsen ist, hat sich der dadaistischen Tradition verschrieben und sich in zahlreichen Projekten mit der Besiedelung verlassener Räume auseinandergesetzt. Er stand hinter den lebendigsten und einflussreichsten Hausbesetzer-Szenen der letzten zwei Jahrzehnte in der Schweiz und anderswo. In den frühen 1990er-Jahren war er Mitbegründer des alternativen KunstZentrums «Tacheles» in Berlin, zog temporäre Museen in Zürich und Kopenhagen auf und malte grosse Wandbilder in Wien, Košice sowie Prag. Stets war sein Schaffen begleitet von der Vision einer solidarischen und nicht-kommerziellen Kultur, die für jede und jeden zugänglich sein soll.

Libertin: Mark Divo, womit beschäftigst du dich aktuell, wie ist die Pandemie-Situation für dich als Kunstschaffender?
Mark Divo: Ich widme mich gerade einem «Kunst am Bau»-Projekt, zudem stecke ich aktuell in einer Phase der Suche, wie so oft. Des Weiteren bereite ich mich auf meine nächste Ausstellung im Urals Center for Contemporary Art in Ekaterinenburg vor.

Wie sieht dein Alltag aus?
Ich bin nicht umsonst Künstler geworden… ich bin ein Nachtmensch! Gerade befinde ich mich in einer ruhigen Schaffensphase (lacht). Ich lebe zwischen verschiedenen Städten, momentan bin ich notgedrungen in Tschechien versandet. Ich war sozusagen immer nicht in Zürich, bin ein typischer Exil-Kunstschaffender. Jahrelang war ich in Deutschland, dann sehr lange in Italien, Kopenhagen, Kairo, New York, in Prag und auch immer wieder in Berlin… an den verschiedensten Orten. Jetzt möchte ich wirklich auswandern. Dafür kommt für mich nur der Süden Europas in Frage – ich mag die Architektur dort, die Leute entsprechen mir. Und ich mag den römischen Einfluss! In Tschechien hat mich damals die zentraleuropäische Mentalität überzeugt.

Mark Divos künstlerisches Schaffen bewegt sich an der Grenze zwischen Konzept- und Performancekunst. In seinen bewohnten Skulpturen erweitert er Ideen wie die geteilte Autorenschaft zu performativen Installationen; ein Konzept, das er in diversen Ländern realisiert hat. Gefundene Objekte wie Abfall, Antiquitäten, Trödel und Bücher sind das Rohmaterial für seine Installationen und Ausstellungen. Er verwendet für seine Adaptionen Ikonen aus der Kunstgeschichte als ideelles Material. So persifliert er zum Beispiel mit bunten, quadratischen Putzschwämmen Klassiker der Moderne oder stellt den Pathos klassischer Gemälde in inszenierten Fotografien nach. Divo war ausserdem massgeblich in die Besetzung des Cabaret Voltaires involviert, welches aufgrund seiner künstlerischen Intervention überhaupt erst entstanden ist. Dies war auch der Auftakt zu seinen internationalen Dada-Festivals, die im Laufe der Jahre in verschiedenen Städten stattgefunden haben.

(Titelbild: «Never do as you are told»/Megaphoto auf Alu/122x145cm)

Ich bin nicht umsonst Künstler geworden… ich bin ein Nachtmensch!

Wie bist du auf diese Orte gekommen, insbesondere auf Tschechien?
Durch Zufall oder durch eine Empfehlung. Zürich kann man sich als Künstler nicht leisten – mit dreissig Nebenjobs und etwas Glück reicht es dort knapp für eine Substandart-Sozialwohnung (lacht). Ausserdem baue ich aufwendige Sachen, für die ich viel Platz brauche. Den finde ich in Prag.

Mit Bauen meinst du den «Roboterarm», dein aktuelles Projekt?
Genau. Ich arbeite gerade daran, eine unfreundliche, artifizielle Intelligenz zu erschaffen; sozusagen eine «Anti-Sophia», ein beeinträchtigter Roboter, der auf jede Frage in frecher Weise antwortet.

Wie unterscheidet sich für dich als Kunstschaffender das Leben in Tschechien von dem in Zürich, abgesehen von den Mieten?
Als ich vor fünfzehn Jahren das erste Mal in Prag war, faszinierte mich, dass hier alles etwas abgefuckter war. Seither bin ich regelmässig in Prag, da dort meine vierzehnjährige Tochter lebt. Mich nervt, dass Zürich so «gschläckt» daherkommt. Mittlerweile ist aber auch in Prag alles durchsaniert – das ist alles eine Frage der Zeit. Wenn man der Gentrifizierung aus dem Weg gehen möchte, müsste man heute nach Lemberg ziehen.

Lemberg?
Lwiw! Das ist in den Karpaten, hinter der Slowakei – die östlichste Stadt der K&K-Monarchie.

Warum sollte man dorthin?
Dort ist die Gentrifizierung noch nicht angekommen und die Architektur erinnert an jene der K&K Monarchie – es gibt Schlaglöcher und standardisierte Bahnhöfe, es ist einfach authentisch.

Zürich ist für mich ein Ort der Mittelmässigkeit und auch der Hässlichkeit.

Daraus ziehst du also deine Inspiration? Du suchst also stets nach Orten, die etwas Authentisches haben?
Es geht mir um günstigen Wohnraum… nein, um Lebensraum! Ich finde die Europaallee in Zürich nicht besonders inspirierend (lacht)! Zürich ist für mich ein Ort der Mittelmässigkeit und auch der Hässlichkeit. Die Kreise 4 und 5 sind vollständig gentrifiziert, es wirkt einfach zu geputzt. Die Kunstschaffenden sind jetzt in Schlieren, oder in Altstetten… oder Jägistorf (lacht).

Woher kommst du gebürtig?
Aus Esslingen – einem typischen Vorort von Zürich. Mit fünfzehn Jahren jedoch ging ich auf ein Internat, danach nach Deutschland. Ich bin erst anfangs der 90er-Jahre zurückgekehrt.

Was hat sich für dich verändert, wo stehen wir mit der Kunst? Was könnten mögliche Entwicklungen sein, Visionen davon? Oder einfacher: was kommt als Nächstes?
Das Interessanteste und Radikalste, was Kunstschaffende machen können, wäre, eine unsichtbare «weisse» Linie zu ziehen, von Zürich bis nach Damaskus. Und wenn man das rund zwei Jahre geheim halten würde.

Quasi eine Art Vernetzung?
Ja genau, die Idee entstand aufgrund eines Zitates des Kunsthistorikers Adam Curtis aus seinem neusten Film «Cant Get You Out Of My Head». Ich habe eine Vorlesung von ihm an der Karlsuniversität in Prag besucht, wo ich selbst Cultural Studies unterrichte. Curtis adressiert den Individualismus, den wir alle leben – und zieht ihn in den Dreck. Damit will er aufzeigen, dass dieser Ansatz heutzutage auch für totalitäre Ideen und Regimes benutzt werden kann. Ich finde das sehr interessant. Kunst entsteht für mich, wenn Leute etwas zusammen machen. That’s Art! Kunst soll nicht nach dem Narrativ der Galerien stattfinden, wo man ein Werk eines Künstlergenies bestaunt. Das Kollektive ist interessant! Es ist völliger Blödsinn, die Sachen, den ganzen Trash zu verkaufen – davon sollten wir dringend wegkommen, wenn man das Potenzial von Kunst und Kultur ausschöpfen möchte.

Kunst entsteht für mich, wenn Leute etwas zusammen machen. That’s Art!

Der soziale Aspekt steht für dich also eindeutig im Fokus – zusammenkommen, zusammen erschaffen?
Das ist die Super-Geheimwaffe, die die Kunst sein könnte. Es kann so, wie es jetzt ist, nicht weitergehen! Aber das war alles vorhersehbar, auch schon vor zwanzig Jahren. Es muss sich im Mindset der Leute etwas Grundlegendes verändern. Auch bezüglich der Klimakrise. Das geht aber nur, wenn man ihnen die Möglichkeit dafür gibt. Beispielsweise würde die gezielte Förderung künstlerischer Kooperationen eine Vielzahl von genialen Ideen generieren. Heute ist die Mehrzahl der Einwohnerinnen und Einwohner westlicher Industrienationen damit beschäftigt, dem Mainstream hinterherzurennen und dabei möglichst viele Ressourcen zu vernichten. Es bräuchte Versuchsfelder, in denen alternative Lebensentwürfe erprobt werden könnten und bei denen nicht die permanente Gier nach neuen Märkten und Produkten zum Selbstzweck wird.
Der kulturelle Sektor würde sich gut als Versuchsfeld eignen, in dem der von Johan Huizinga ermittelte «Homo ludens» zu einer Entwicklung gelangen könnte, also dass der Mensch spielerisch seine kulturellen Fähigkeiten erlangt. Es bedarf meiner Meinung nach keinerlei Diplome, um Künstlerin oder Künstler zu werden. Würde man die staatlichen Kunstschulen auflösen, und die dadurch freigeworden Ressourcen zur Unterstützung der lokalen Kunstszene einsetzen, wäre die Stadt in der man wohnt lebenswerter und interessanter. Der überbordende Sektor der Kulturbürokratie könnte dann auch abgespeckt werden. Ich bin sicher, dass die meisten dort angestellten Kulturhistorikerinnen und -historiker viel lieber in einem hierarchiefreien Quartierzentrum ihren Mitbürgerinnen und -bürgern ein Kunstwerk vermitteln würden, als ihre Zeit in einer stickigen Amtsstube mit der Evaluation von Gesuchen zu vergeuden. Die dadurch freigewordenen Büroräume könnten Kunstschaffenden unentgeltlich zur Bespielung übergeben werden und überall würden eine Reihe kostenloser Kulturangebote ihre Tore öffnen. Für ihre Ausbildung könnte das im Handwerk seit Jahrtausenden bestehende System der Lehre angeboten werden – mit dem Unterschied, dass jede Schülerin und jeder Schüler jederzeit die Möglichkeit hätte, ohne Begründung, den Meister zu wechseln. In einer Stadt mit einem Überangebot an kostenloser Unterhaltung würde sich die Gesellschaft von allein entschleunigen, und wir würden aus dem Teufelskreis des Neoliberalismus herausfinden.

Wie stehst du zu den Museen als Institution?
Dazu fällt mir der Spruch ein: «Tote Künstler sind ein wahrer Schatz». Das Problem ist, als Künstlerin oder Künstler ist man oft subversiv und nicht angepasst, damit erfüllt man aber auch eine wichtige Aufgabe in der Gesellschaft. Wenn man die ganze Organisation der Demokratie einfach wegliesse, würde sich vielleicht alles selber neu formieren und organisieren.

Hängt diese These mit der Idee der weissen Linie zusammen?
Die Ausgangssituation dazu ist die, dass sich momentan jeder und jede auf Instagram vermarktet. Je mehr desto besser. Wenn jetzt jemand ein Projekt machen würde, das zu hundert Prozent ephemer und dazu zeitaufwändig ist und niemand davon erfahren würde: das wäre wirklich revolutionär!

Und wo würde das dann in deinen Augen hinführen?
Das ist eine dystopische Wahrheit, die Entwicklung geht in diese Richtung… Es wäre etwas Neues, jedoch würde es niemand mitbekommen! Das ist der Clue. In der Kunst gibt es das breite Vorurteil, dass alles schon bekannt ist. Aber das stimmt nicht, denn jeder Moment der Betrachtung und des Erlebens von Kunst ist ephemer und regt zum Nachdenken an. Genau diesen Vorgang kann man nicht konservieren! Immer wieder vergisst man, dass alle Kunst zum Zeitpunkt ihrer Entstehung ein Teil sozialer Interaktion war, im Kontext einer jeweiligen Macht. Kunst war auch Machtdemonstration in Form von nicht-autonomen Auftragsarbeiten, bis Ende des 19. Jahrhunderts.

Ich bin ein grosser Fan vom «Instantismus» – etwas aus dem schaffen, was herumliegt.

Wie würdest du dich selbst stilistisch verorten als Kunstschaffender, in der Kunstlandschaft und der Gesellschaft?
Ich bin eigentlich gegen Ordnung, eher für eine Unordnung (schmunzelt)! Das Problem ist, dass mittlerweile jedes Individuum eine Einheit für sich ist. Ich bin sicher ein politischer Künstler – früher habe ich mich als Anti-Dadaist bezeichnet. Ich beschäftige mich oft mit dem Alltag und dessen Verherrlichung, das gehört stilistisch zum sozialistischen Realismus. Abgesehen vom Dadaismus war jede Kunstrichtung fremdbestimmt.

Wie würdest du spontan die Kunst unserer Zeit betiteln?
Uff! Ich bin ein grosser Fan vom «Instantismus» – etwas aus dem schaffen, was herumliegt. Ich habe sehr lange nach dieser Vorstellung gelebt. In Berlin haben wir von unseren Aktionen absichtlich keine Fotos gemacht. Immer wenn wir ausgestellt haben, änderten wir unseren Namen. Wir hatten an die dreissig Namen! Es ging darum, die Spuren zu verwischen, wir haben also genau gegenteilig unserer heutigen Zeit gehandelt!

Wie finanzierst du dich eigentlich?
Ich bin mittlerweile sozusagen Privatier, ich habe verschiedene Projekte und Aufträge, um Geld zu verdienen. Ich mache auch Anlässe und halte Vorträge.

Ist damit die Charakteristik deines früheren Schaffens in den Hintergrund gerückt?
Es entstehen immer wieder andere Formen. Mittlerweile steht für mich das Auswandern aus der Stadt im Fokus. Ich werde mir verschiedene Objekte ansehen, im Jura in der Schweiz beispielsweise. Mich interessiert die Gründung einer Kommune.

Also eine Kommune mit einer bestimmten Ideologie?
Ohne Ideologie! Eben möglichst herrschaftsfrei. Ich habe schon verschiedene temporäre Kunstorte geschaffen, besetzte Häuser. Ich überlege nun, wo es wirklich interessant sein könnte. Zum Beispiel in Portugal. Oder an der Peripherie der Schweiz. Portugal ist im historischen Kontext weniger ein Schlachtfeld als Osteuropa. Südliche Länder sind grundsätzlich konservativer, aber die Menschen sind dort offener. Ausserdem gibt es im mediterranen Kulturraum mehr Leben auf der Strasse, was ich in der Schweiz weniger sehe, obwohl ich gerade Zürich dennoch sehr spannend finde, es ist international geworden. Je weiter man wiederum in den Osten geht, desto weniger ist das der Fall.

Im konservativen Charakter Portugals siehst du also ein weiteres künstlerisches Potenzial versteckt?
Ich bin auf eine spezifische Art konservativ und genau deshalb fasziniert mich der mediterrane Kulturraum. Ich trinke zum Beispiel viel Tee und lehne harte Drogen ab.

Abschliessend eine Frage zu deinem 450-seitigen Buch «Im Bett mit Mark Divo – 1988-2012», das auf deiner Website zu finden ist – was steckt dahinter?
Das ist eine Künstler-Monografie, ein Standardding, das man als Künstler mit einem gewissen Bekanntheitsgrad in der Schweiz zusammenträgt. Stiftungen wie Pro Helvetia unterstützen das. Ich empfehle aber niemandem, das zu machen. Dahinter steckt sehr viel Arbeit, die man quasi gratis verrichtet.  

Website

Link zu Mark Divos Tätigkeit als Kunstvermittler in Prag